Der Allerweltshase, Der literarische Hase

Leipzig, Georg Schumann Straße

War José Manuel Barroso hier? "Spar" steht als Graffiti an einer Häuserwand der Georg-Schumann-Straße.
War José Manuel Barroso hier? „Spar“ steht als Graffiti an einer Häuserwand der Georg-Schumann-Straße.

 „Die hohe Verkehrsbelastung und die damit verbundenen Beeinträchtigungen haben dazu geführt, dass die Magistrale im Nordwesten von Leipzig ihre Funktion als urbane Wohn- und Geschäftsstraße weitgehend verloren hat. Hohe Leerstandsquoten bedrohen den Altbaubestand, es ist mit städtebaulichen, wirtschaftlichen und sozialen Problemlagen zu rechnen.“ (aus einem Plan zur Stadtförderung der Stadt Leipzig)


Schon gehst du nach Nordwesten hin, links das alte Stadtbad, vom Abriss bedroht, rechts eine Tankstelle mit regem Verkehr, den Hauptbahnhof hast du schon im Nacken, und plötzlich: da, sieh her, da tut sich etwas auf: Leipzig, Georg-Schumann-Straße, dieses Schmuckkästchen mit reichlich Schrammen, viel befahren und mit Leerstand. In den Ramschläden trägt das Glück einen Mängelexemplarstempel.

Ich gebe es zu: Die Georg-Schumann-Straße ist überwältigend. Wo sonst findet man in Leipzig alte Grammophone in den Schaufensterscheiben und Putten mit gebrochenen Köpfen und Flügeln zum Verkauf? Wo sonst wird man von einer 14jährigen Verkäuferin mit den Worten begrüßt: „Wohl Hacke im Gesicht?“, weil man beim Betreten des Ladens unfreundlich dreinblickt?

Jedesmal, wenn ich dort bin, werde ich nicht enttäuscht. Heute wurde ich beinahe von einem betrunkenen Rollstuhlfahrer überfahren und ich habe einen traurigen Skinhead in der Kneipe „Zum fröhlichen Zecher“ sitzen sehen. Ich stand vor dem Laden der „Dresdener Dampfgeräte-Manufaktur“, in dem „highendsmoke-Produkte“ angeboten werden (Werbeslogan: „Rauchst du noch oder dampst du schon?“). Und habe mich über ein eingezäuntes Grundstück gewundert, in dem es nichts gab außer altem Gestrüpp und morschen Bäumen.

In der Georg-Schumann-Straße ist der Himmel immer ein wenig von Straßenbahnkabeln zerschnitten. Auch die Ampeln, so scheint es mir, schalten langsamer von Rot auf Grün. Die DVDs, die in den Ramschläden zum Verkauf angeboten werden, haben genau da einen Kratzer, wo man das Happy End der Filme vermuten würde.

Wer die Schumann-Straße schätzen und verstehen will, kann dies nicht ohne eine Wunde tun. Schnell fallen mir die kleinen Verletzungen auf, mit denen sich die Straße umgibt. Ich sehe die Traurigkeit einer Frau, die mit ausladendem Hintern vor mir herläuft, in einer unförmigen Hose, die sie möglicherweise bei kik oder einem anderen Kleidungsdiscounter erworben hat. Und doch: die Frau ist schön, sie trägt langes schwarzes Haar, und als sie sich zu mir umdreht, sehe ich in ihrem verlebten Gesicht ein Grübchen, dass ihr eine mir unbekannte Sanftmut verleiht. Man muss genau hinschauen, um sich hier wohl zu fühlen.

Da verstehe ich, warum eine Arztpraxis ihren Infotag – „Blase und Po: Inkontinenz im Kindesalter“ mit dem Bild einer Schnecke ankündigt: Ein großes Tier, die fröhlich grinsend Wasser lässt, eher furchteinflößend als einladend. Da verstehe ich auch das Emblem der Pizza „Fly“: Eine Taube, die sich mit kräftigen Schwingen gen Himmel erhebt, zwischen Heliumluftballons in den Farben grün, rot und blau. Es herrscht Bewegung hier, es tut sich was. Und wenn die Wände grau sind, werden sie mit Graffiti besprüht.

Es ist eine Lüge, wenn jemand behaupten würde, dass in der Georg-Schumann-Straße nicht gelebt wird, dass hier keine Kinder geboren und keine Luftballons aufgeblasen werden, dass niemand einen Spaß macht, niemand grüßt oder winkt. Es ist eine sehr vitale Straße. Auch die vielen kleinen Läden wirken lebendiger als die teuren Warenhäuser in der Innenstadt. Sie sind weniger steril, haben nicht das immer gleiche Sortiment, nicht die immer gleichen Preise. Man weiß hier nicht, was einen erwartet, wenn man über eine Ladentüre tritt, ob das Kleidersortiment aus Ledermänteln oder grünen Schürzen besteht, aus braunen Kordhosen mit Löchern in der Tasche oder aus pinken Mänteln, auf deren Rücken in verschnörkelter Schrift das Wort „Babe“ leuchtet. Vieles ist Ramsch, aber alles ist bunt hier, und oftmals ist es auch schön. (Tagebuchnotiz vom 28. Februar 2013)

4 Gedanken zu „Leipzig, Georg Schumann Straße“

  1. Kann sich hier jemand an den Artikel aus der Zeit über die Servicementalität im Osten erinnern. Die Stichproben fanden ausschliesslich in der Innenstadt statt. Südvorstadt, Zentrum,…..Und ich kann leider alles bestätigen.Habe 1 Jahr da gewohnt.
    Nun wohne ich hier im Norden, die Leute werden hier mit einem Lächeln und Namen im Konsum begrüsst und beim Metzger wird jeder Satz mit sehr gerne oder danke beendet!!
    Der “Erfahrungsbericht” will nur sehen was er sehen möchte und ist die vorurteil beladene Sicht eines Aussenstehenden!

  2. Hm, der Text lässt mich ein wenig ratlos zurück. Wenn man böse sein wollte, würde man nun fragen, was für einen sozialromantischen Hipster man da auf die ehemalige Bundesstraße losgelassen hat. Hinsichtlich seines allgemeinen Tenors muss ich meinem Vorredner da zustimmen. Mit dem Unterschied, dass ich von 2006 bis 2011 ganze fünf Jahre da gewohnt habe, jeweils in Querstraßen keine 40m von der Schumann-Straße entfernt. So traurig und asozial ist es dort keinesfalls. Mittlerweile wohne ich in einer nicht besser sanierten, aber ‚hipperen‘ Ecke, und jedes Mal, wenn ich nach Gohlis radele, um meinen sich nach wie vor dort befindlichen Ärzten, o. ä. einen Besuch abzustatten, staune ich über die stetigen Veränderungen.

  3. Seid ihr euch sicher, denselben Text gelesen zu haben? Ihr Zugezogenen! Das ist eine wunderbare Liebeserklärung, an die Stadt und das Abseitige.

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